Grundlagen Arbeitsrecht: Vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit und Täuschung über Fortsetzungserkrankungen – Was Arbeitgeber wissen müssen

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Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sind ein zentrales Element im Arbeitsverhältnis. Mit Ihnen kann der der Arbeitnehmer seinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung begründen und dem Vorwurf des unentschuldigten Fehlens entgegentreten. Doch was passiert, wenn Zweifel an der Richtigkeit der Krankmeldung bestehen – etwa bei Verdacht auf vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit oder bei einer sogenannten Fortsetzungserkrankung? Zu denken ist z. B. an eine Verweigerung der Entgeltfortzahlung oder an eine Kündigung. Entscheidend ist dabei die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.

1. Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Die AU-Bescheinigung hat im deutschen Arbeitsrecht einen hohen Beweiswert. Sie gilt grundsätzlich als ausreichender Nachweis für die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit. Dieser Beweiswert kann jedoch erschüttert werden, wenn konkrete Tatsachen ernsthafte Zweifel an der tatsächlichen Erkrankung begründen. Im Folgenden listen wir einige Beispiele hierfür auf. Letzt-lich kommt es jedoch auf eine Beurteilung im Einzelfall an.

Formale Mängel der AU-Bescheinigung, insbesondere bei Verstoß gegen nicht nur formale Vorgaben der Arbeitsunfähigkeitsrichtlinien:

  • Ausstellung ohne vorherige Untersuchung (z. B. nur auf Basis eines Online-Fragebogens)
  • Fehlende körperliche Untersuchung bei nicht-psychischen Erkrankungen
  • Bescheinigung aus Fernbehandlung ohne Einhaltung der Richtlinienvorgaben
  • Bescheinigung nach telefonischer Anamnese ohne persönliche Bekanntheit des Patienten
  • Rückdatierung der AU auf einen vor dem Behandlungstag liegenden Zeitraum
  • Rückwirkende Bescheinigung über das Fortbestehen der AU
  • Bescheinigung durch mehrere Ärzte in kurzer Folge ohne nachvollziehbare medizinische Gründe


Verhalten des Arbeitnehmers vor oder bei Krankmeldung:

  • Krankmeldung unmittelbar nach Konflikten oder Kündigung
  • Krankmeldung nach Ablehnung von Urlaub oder Freistellung zum Überstundenabbau
  • Krankmeldung nach Arbeitgeberkündigung oder Eigenkündigung exakt für die Dauer der Kündigungsfrist, auch durch wiederholte Krankmeldungen
  • Krankmeldung vor Zugang der Kündigung bei Kenntnis über bevorstehende Kündigung
    zeitlichen Koinzidenz zwischen dem Ersuchen um einen Aufhebungsvertrag und der anschließenden
  • Krankschreibung
  • Mitnahme persönlicher Gegenstände am letzten Arbeitstag vor AU
  • Mehrere AU-Bescheinigungen von verschiedenen Ärzten nach Konflikten
  • kollektive Krankmeldungen in arbeitskampfähnlichen Situationen
  • Wiederholte Erkrankungen nach Heimaturlauben


Verhalten während der attestierten Arbeitsunfähigkeit:

  • Ausübung von Tätigkeiten, die mit der AU unvereinbar sind (z. B. Sport, Nebenjob, Veranstaltungen, Reisen, Social-Media-Aktivitäten)
  • Arbeiten im eigenen Unternehmen oder für Dritte während der AU
  • Verstoß gegen ärztlich verordnete Verhaltensmaßnahmen oder Medikation
  • Verschiebung eines Rückflugs im Ausland mit anschließender AU-Bescheinigung
  • Nichtwahrnehmung eines Untersuchungstermins beim Medizinischen Dienst

Gelingt die Erschütterung des Beweiswerts, muss der Arbeitnehmer im Gerichtsprozess substantiiert zur Erkrankung vortragen und ggf. den behandelnden Arzt von der Schweigepflicht entbinden.

2. Verweigerung der Entgeltfortzahlung und Kündigung, Darlegungs- und Beweislast

Im Prozess gilt eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast: Der Arbeitgeber muss zunächst Tatsachen vortragen und ggf. beweisen, die den Beweiswert der AU-Bescheinigung erschüttern. Dabei dürfen aufgrund der nur eingeschränkten Erkenntnismöglichkeiten des Arbeitgebers keine überhöhten Anforderungen an dessen Vortrag gestellt werden. Er muss insbesondere nicht darlegen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich arbeitsfähig war.

Gelingt dem Arbeitgeber die Erschütterung des Beweiswertes, kann sich der Arbeitnehmer nicht mehr auf die bloße AU-Bescheinigung berufen. Er muss seine Arbeitsunfähigkeit auf andere Weise darlegen, etwa durch Offenlegung von Diagnosen, Nennung seiner Symptome und die Entbindung der Ärzte von der Schweigepflicht. Kommt er schon dem nicht ausreichend nach oder verstrickt sich in Widersprüche, kann der Vortrag des Arbeitgebers im Prozess unter Umständen als richtig unterstellt werden.

Bleibt im Arbeitsgerichtsprozess offen, ob die Arbeitsunfähigkeit tatsächlich bestand oder vorgetäuscht war, muss unterschieden werden: Im Streit um die Entgeltfortzahlung würde in diesem Fall der Arbeitnehmer unterliegen. Er trägt die Beweislast für das Vorliegen der Arbeitsunfähigkeit.

Bei einer Kündigung wegen vorgetäuschter Arbeitsunfähigkeit sind die Anforderungen an die Beweisführung deutlich höher. Der Arbeitgeber trägt die volle Beweislast für den Kündigungsgrund. Kündigt der Arbeitgeber aufgrund einer vorgetäuschten Arbeitsunfähigkeit, reicht es also nicht aus, lediglich den Beweiswert zu erschüttern. Der Arbeitgeber muss auch etwaigen Vortrag des Arbeitnehmers zu der (vermeintlichen) Arbeitsunfähigkeit bzw. Erkrankung widerlegen. Bei offener Beweislage im Prozess würde der Arbeitgeber unterliegen. Im Ausnahmefall kann jedoch auch eine Verdachtskündigung wirksam sein, wenn deren strenge Voraussetzungen erfüllt sind. Die Beweislast für das Vorliegen eines dringenden Verdachts aufgrund objektiver Tatsachen trägt dabei ebenfalls der Arbeitgeber.

3. Sonderfall: Vorgetäuschte Fortsetzungserkrankung

Nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz endet die Entgeltfortzahlungspflicht des Arbeitgebers nach sechs Wochen. Erkrankt der Arbeitnehmer nach Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit erneut, kommt es für das Entstehen eines weiteren Anspruchs und dessen Berechnung darauf an, ob die Arbeitsunfähigkeit auf einer anderen Krankheit beruht oder ob dieselbe Krankheit Auslö-ser für die Arbeitsverhinderung ist.

Ist der Arbeitnehmer im weiteren Verlauf wegen derselben Krankheit arbeitsunfähig (sog. Fortsetzungserkrankung), endet die Zahlungspflicht des Arbeitgebers und der Arbeitnehmer ist auf das Krankengeld angewiesen. Immer wieder sehen sich Arbeitgeber damit konfrontiert, dass Mitarbeiter aus diesem Grund die Krankheiten „wechseln“, da eine neue Erkrankung („Erstbescheinigung“) die Entgeltfortzahlungspflicht des Arbeitgebers erneut und auch wiederholt auslö-sen kann.

Hat der Arbeitgeber den Verdacht, dass die neue Erkrankung nur vorgetäuscht ist und tatsäch-lich eine Fortsetzungserkrankung vorliegt, ist seine prozessuale Situation zunächst wesentlich besser. Denn in diesem Fall zweifelt er nicht die Arbeitsunfähigkeit an sich an, sondern nur de-ren Ursache. Es bedarf daher keiner Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – es genügt das bloße Bestreiten des Arbeitgebers, dass eine Neuerkrankung vorliegt. Der Arbeitgeber ist nach Ablauf des sechswöchigen Entgeltfortzahlungszeitraums berechtigt, die Entgeltfortzahlung zu verweigern. Der Arbeitnehmer muss nachweisen, dass keine Fortsetzungserkrankung vorliegt.

Häufig wird es dem Arbeitnehmer unter Darlegung seiner Diagnosen und der Entbindung der Ärzte von der Schweigepflicht gelingen, seine Arbeitsunfähigkeit oder das Vorliegen einer neuen Erkrankung zu beweisen. Allerdings zeigt die Erfahrung, dass Erstbescheinigungen oder Folgebescheinigungen häufig falsch ausgestellt werden. Zudem kann auch bei unterschiedlichen Diagnosen dieselbe Grunderkrankung ursächlich für die Arbeitsunfähigkeit sein und damit eine Fortsetzungserkrankung vorliegen.

4. Handlungsempfehlungen für Arbeitgeber

Wie gezeigt haben Arbeitgeber durchaus Möglichkeiten, sich gegen Missbrauch bei der Entgeltfortzahlung bzw. Krankschreibung zu wehren. Auch wenn die rechtlichen Hürden hierfür hoch bleiben, sollten diese nicht ungenutzt bleiben – zumal die Rechtsprechung die Anforderungen an die Erschütterung des Beweiswertes von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen in letzter Zeit erleichtert. Zusammengefasst sind folgende Punkte zu beachten:

  • Verdachtsmomente sorgfältig dokumentieren
  • Ggf. Anhörung des Arbeitnehmers zum Verdacht
  • Ggf. Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats/Personalrat beachten
  • Datenschutzrechtliche Vorgaben beachten
  • Entscheidung über die Zurückbehaltung des Entgelts oder eine Kündigung (Achtung: Zugang innerhalb der 2-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB)

Bitte beachten Sie, dass die obigen Ausführungen nur eine verkürzte unverbindliche Zusammenstellung nach heutigem Stand darstellen. Für die Richtigkeit und Vollständigkeit wird keine Haftung übernommen. Gerne stehen die Ihnen bekannten Ansprechpartner unserer Kanzlei hierfür zur Verfügung

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